Bei psychischer Störungen regiert das Chaos
Jede Herangehensweise an psychische Störungen betont eine bestimmte Ursache und einen entsprechenden Handlungsansatz. Randolph M. Nesse nennt Beispiele: „Ärzte, die nach ererbten Einflussfaktoren und Gehirnstörungen Ausschau halten, empfehlen Medikamente. Therapeuten, die Kindheitserfahrungen und mentale Konflikte für die Symptome verantwortlich machen, raten zu einer Psychotherapie, während diejenigen, die auf falsche und belastende Überzeugungen fixiert sind, eine kognitive Therapie vorschlagen.“ Bei einer religiösen Orientierung legt man den Hilfesuchenden Meditation und Gebet nahe. Und diejenigen, die glauben, dass die meisten Probleme in der Familiendynamik verankert sind, spreche sich, was sonst, für eine Familientherapie aus. Professor Randolph M. Nesse ist Mitbegründer der Evolutionären Medizin. Seit 2014 lehrt er and er University of Arizona, wo er als Gründungsmitglied und Direktor das Center for Evolution and Medicine leitet.
Debatten über die Diagnostik werden heutzutage erbittert geführt
Der Psychiater George Engel erkannte das Problem 1977 und entwickelte ein integratives „Biopsychosoziales Modell“ von Gesundheit und Krankheit. Seither wurden jedes Jahr erneut Rufe nach einer Sichtweise laut, die biologische, psychische und soziale Einflussfaktoren als Teile eines miteinander verwobenen Ganzen versteht, womit bedauerlicherweise die Fragmentierung der Psychiatrie noch verstärkt wurde. Randolph M. Nesse stellt fest: „Die chaotischen Realitäten psychischer Störungen werden ignoriert, damit sie in das Prokrustesbett des einen oder anderen Schemas eingepasst werden können.“
Fachausschüsse plädieren für einen integrierenden Ansatz, aber die Ausschüsse, die über die Zuteilung von Fördergeldern und Festanstellungen entscheiden, unterstützen ausschließlich Projekte, die sich in eine der eng gefassten Disziplinen einfügen. Debatten über die Diagnostik werden heutzutage so erbittert geführt, dass sie es bis in die Editorials von Zeitschriften schaffen. Randolph M. Nesse ergänzt: „Die Suche nach Gehirnanomalien als Ursache psychischer Störungen bot eine weitere Hoffnung, der Verwirrung ein Ende zu setzen.“
Biopolare Störungen oder Autismus werden in der Regel vererbt
Denn das Gehirn von Menschen mit bipolarer Störung oder Autismus müsste sich doch in irgendeiner Form von dem Gehirn nichtbetroffener Personen unterscheiden. Randolph M. Nesse betont: „Doch Studien haben nur geringfügige Abweichungen entdeckt. Sie sind real, aber nicht konsistent. Es ist schwer, zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden. Keine Untersuchungsmethode kommt an eine definitive Diagnose heran, die vergleichbar wäre mit einer Lungenentzündung oder Krebserkrankung.“
Auch die Hoffnungen, die sich auf die Genetik stützten haben sich zerschlagen. Ob jemand Schizophrenie, eine bipolare Störung oder Autismus entwickelt, ist fast ausschließlich eine Vererbungssache, sodass die meisten, die um die Jahrtausendwende mit Forschungsprojekten im psychiatrischen Bereich befasst waren, zu der Überzeugung gelangten, dass es keine weit verbreiteten genetischen Variationen mit größeren Auswirkungen auf diese Erkrankungen gibt. Randolph M. Nesse erläutert: „Fast alles spezifischen Variationen erhöhen das Anfälligkeitsrisiko nur um ein Prozent oder weniger.“ Quelle: „Gute Gründe für schlechte Gefühle“ von Randolph M. Nesse
Von Hans Klumbies